Ernst Schur: Heimat

1.
Heimat!
Ist Heimat nur Dorf und Land?
Nur die kleinen Städte?

Auch über dem Meer der Mietkasernen
wölbt sich der Nachthimmel mit all den Sternen.
Tausende funkeln auch hier und die Milchstrasse
spannt ihren Bogen.
Ein Meer von Häusern duckt sich darunter
wie Schafe, die in der Hürde zittern
und Lichtern leuchten aus den Stuben
der guten, kleinen Menschen,
überall sind sie am Werk. Ein rastlos Gewimmel.
Wie Bienenfleiss. Wie Ameisenrennen
unter dem unendlichen ruhigen Himmel.

Gibt es nur ein Zurück?
- Zu Dorf und Land?
Gibt es nur eine Flucht?
- Zu den kleinen Städten?
Es gibt grössere Zusammenhänge!
Es gibt grössere Organismen!
Weit wie der Himmel!
Und stark wie die Welt!

2.
Die kennen dich nicht,
Die der Zufall hierherführt
Wie der achtlose Wind ein Blatt verweht.

Lassen sich treiben in dem Strom der Dinge
bis zu dem Zentrum, das sie anzieht:
Berlin!
Meilenweit verschlingt dieser Magnetberg
im Umkreis die Eisenstücke.
Meilenweit streckt dieses gewaltige Tier
seine Arme.

Sie nippen von dir und kosten
und prüfen
und nehmen von dir, was ihnen passt –
ihnen Gleich!
Ihren Geist.
Ihren Sinn.
Ihre Seele.

Den Geist des Einzelnen!
Den Sinn des Einzelnen!
Die Seele des Einzelnen!
Sie kennen dich nicht.

3.
Deren Jugend hier aufwuchs
zwischen all den Häusern
Die den Himmel suchen mussten
Sehnten sie sich nach der Bläue
die kennen dich. Heimat!

Die in den Strassen irrend Erinnerung
überfällt – hier – und da – und dort wieder –
die kennen dich.
Denen du Wunden schlugst
tief in ihre Seele –
die erkennen dich: Werkmeister ihrer Seele.

Und tausend und mehr als tausend Herzen
nennen dich
auch dich
mit bebender Lippe:
Heimat.